Vielfalt sichern – Kulturpflanzen wirksam schützen

27.07.2020

Für eine leistungsfähige heimische Landwirtschaft

1. Die Unterzeichner

Die Unterzeichner dieses Aufrufs vertreten zwölf Verbände der deutschen Landwirtschaft und ihrer Zulieferindustrien. Wir wenden uns damit an die Politik in Deutschland und der EU in Sorge um die Leistungsfähigkeit des Agrarstandorts Deutschland. Durch den Wegfall wichtiger Betriebsmittel wie insbesondere moderner Pflanzenschutzmittel sehen wir Produktivität, Konkurrenzkraft und Vielfalt des Pflanzenbaus in Deutschland bedroht.

2. Landwirtschaft in Deutschland

Deutschland hat eine starke Agrarbranche. Aktuell ernährt ein Landwirt hierzulande 140 Menschen. Neben über 600.000 Beschäftigten auf den landwirtschaftlichen Betrieben stellt das gesamte Agribusiness in Deutschland mit seinen vor- und nachgelagerten Bereichen weitere rund 4 Millionen Arbeitsplätze. Zudem sichert eine leistungsfähige Landwirtschaft die ökonomische Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Vitalität ländlicher Räume.

3. Produktivität und Selbstversorgung

Deutschland ist ein landwirtschaftlicher Gunststandort und die Flächenerträge sind bei den wichtigsten Ackerkulturen im weltweiten Vergleich hoch. Dazu tragen neben guten Bodenqualitäten und dem gemäßigten Klima mit in der Regel ausreichender Wasserversorgung moderne Technik, gut ausgebildete landwirtschaftliche Unternehmerinnen und Unternehmer und der Zugang zu modernen Betriebsmitteln bei. Dennoch ist Deutschland ein Nettoimporteur von Nahrungsmitteln. Während bei großen Ackerkulturen wie Getreide oder Kartoffeln der Selbstversorgungsgrad noch über 100 Prozent liegt, ist Deutschland bei Obst und Gemüse schon jetzt zu einem überwiegenden Teil auf Importe angewiesen. Insgesamt lag der Selbstversorgungsgrad bei Nahrungsmitteln zuletzt bei nur noch 88 Prozent. Die Corona-Krise aber hat die Bedeutung stabiler regionaler Kreisläufe verdeutlicht. Deshalb muss die Politik die Förderung der produktiven regionalen landwirtschaftlichen Erzeugung, die Sicherung der Lieferketten und die Versorgungssicherheit in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen.

4. Pflanzenschutz sichert Ertrag und Qualität

Ein wesentlicher Faktor für die hohen Flächenerträge der deutschen Landwirtschaft bei gleichbleibend hoher Qualität ist der chemische Pflanzenschutz. Maßgeblich für den Einsatz chemischer Mittel ist das Prinzip des Integrierten Pflanzenschutzes: so viel wie nötig, so wenig wie möglich. Im Zusammenwirken mit ertragreichem Saatgut und mineralischen sowie organischen Düngemitteln sorgen Pflanzenschutzmittel im konventionellen Pflanzenbau für etwa den doppelten Ertrag pro Hektar in den meisten großen Ackerkulturen (verglichen mit Biolandbau). Zugleich sichern Pflanzenschutzmittel die hohe Qualität des Ernteguts; ohne wirksame Fungizide etwa stiegen gesundheitliche Risiken durch Mykotoxine (Pilzgifte) bei einem Befall der Kulturpflanze. Fallen bewährte Pflanzenschutz-Lösungen weg, wie beispielsweise insektizide Beizen im Raps, so zeigen sich rasch die Folgen: Die Ernteerträge gehen zurück und im zweiten Schritt die Anbauflächen dieser Kulturen, da sie für den Landwirt ökonomisch unattraktiv werden.

5. Bekämpfungsoptionen schrumpfen

Die Europäische Union hat weltweit den strengsten Regulierungsrahmen für die Zulassung, das Inverkehrbringen und die Anwendung von chemischen Pflanzenschutzmitteln mit dem Ziel, den bestmöglichen Schutz von Mensch und Umwelt zu gewährleisten. Die regulatorischen Hürden für neue Wirkstoffe liegen allerdings in der EU inzwischen so hoch, dass in den vergangenen zehn Jahren auf vier Substanzen, die vom Markt genommen werden mussten, nur eine neue genehmigt wurde. Bei den aktuell laufenden Erneuerungen der Genehmigung von über 200 registrierten Substanzen werden viele weitere bewährte Wirkstoffe von der Positivliste der EU verschwinden, darunter vermutlich auch einige, von denen der Ökolandbau stark abhängig ist. Dann wird die Versorgung mit heimischen Lebensmitteln von 50-100 Wirkstoffen abhängig sein. Dieser Entwicklung müssen wir jetzt entgegenwirken.

6. Neue Entwicklungen brauchen Zeit

Während sich in der Europäischen Union die Wirkstoffverluste beschleunigen, bleibt die Entwicklung neuer Substanzen eine ebenso zeit- wie kapitalintensive Unternehmung. Von der Synthese eines neuen Wirkstoffs im Labor bis zum erstmaligen Einsatz auf dem Acker eines Landwirts vergingen zuletzt im Durchschnitt über 11 Jahre. Eine morgen entdeckte Substanz wäre mithin wohl erst in der ersten Hälfte der 2030er Jahre marktreif verfügbar. In Zukunft werden die Herausforderungen aber eher noch zunehmen; schon jetzt sehen wir, dass sich im Zuge des Klimawandels neue Schädlinge bei uns ausbreiten. Auch wird die Verfügbarkeit von Alternativen zu erprobten chemischen Pflanzenschutzmitteln gern überschätzt. Auf absehbare Zeit werden weder biologische, züchterische, digitale und mechanische Alternativen aus dem Stand verfügbar sein, noch können sie in puncto Wirksamkeit und Zuverlässigkeit mit den modernen chemischen Mitteln, die heute in Europa zugelassen sind, mithalten, unsere Ernährung sichern und einen Beitrag zur Welternährung leisten.

7. Schädlingsresistenzen drohen

Der kritische Wert für ein wirksames Resistenzmanagement im Pflanzenschutz ist die Verfügbarkeit von drei verschiedenen Wirkmechanismen („Modes of Action“). Diese Varianz an Lösungen mindestens aufrecht zu erhalten ist als Ziel auch in Deutschlands Nationalem Aktionsplan Pflanzenschutz (NAP) festgehalten. Doch schon heute fehlt es in vielen Kulturen, besonders bei den Insektiziden, grundlegend an wirksamen Bekämpfungsoptionen. Durch den Wegfall wichtiger Wirkstoffe bestehen bereits auch in größeren Ackerkulturen wie z.B. Raps, Kartoffeln und Zuckerrüben kritische Behandlungslücken. Mit dem bereits absehbaren Wegfall weiterer Wirkstoffe wird sich dieser Trend verstärken. Die Zunahme an sogenannten Notfallzulassungen ist hierfür ein wichtiger Indikator – fallen Wirkstoffe weg, bleiben die Notwendigkeiten der Bekämpfung von Schaderregern bestehen und werden dann erst zum Problem für den Landwirt.

8. Unbeabsichtigte Konsequenzen

Durch den Wegfall relevanter Lösungen im Pflanzenschutz tun sich bei Kartoffeln, Zuckerrüben, Raps und Körnerleguminosen, Hopfen und vielen Obst- und Gemüsesorten Behandlungslücken auf, die den Anbau für die Betriebe unattraktiv machen, weil Erträge und Qualitäten leiden. Sie werden diese Kulturen seltener oder gar nicht mehr anbauen. Neben einer stärkeren Importabhängigkeit und der Verlagerung landwirtschaftlicher Produktion in andere Weltregionen wird dies weitere, unbeabsichtigte Konsequenzen nach sich ziehen: Die Regionalität des Lebensmittelangebots schwindet, und mit längeren Transportwegen verschlechtert sich auch die Klimabilanz des Ernährungssektors. Die wegfallenden Kulturen fehlen, um Fruchtfolgen weiter und vielfältiger zu gestalten. Stattdessen werden, völlig entgegen den Zielen bereits veröffentlichter Ackerbaustrategien (z.B. BMEL-Diskussionspapier „Ackerbaustrategie 2035, Ackerbaustrategie des Zentralausschusses der Deutschen Landwirtschaft) und den gesellschaftlichen Wünschen, verstärkt Mais und Weizen angebaut werden.

9. Solide Informationsgrundlage

Selbst in der Fachöffentlichkeit ist das Problem der Wirkstoffverluste wenig präsent. Es braucht solide und umfassende Informationsgrundlagen, auf denen die politisch Verantwortlichen ihre Entscheidungen treffen. Dies könnte in Form eines jährlichen Berichts über die Verfügbarkeit von Bekämpfungsoptionen in Acker- und Spezialkulturen (z.B. Gemüse, Wein, Obst, Hopfen) geleistet werden. Dabei muss das Potenzial verfügbarer und erwartbarer Alternativen ebenso erörtert werden wie die rechtlichen und regulatorischen Grenzen möglicher neuer Entwicklungen. Den Agrarwissenschaften, insbesondere der Phytomedizin, kommt hier eine bedeutende Rolle zu. Ein Rat von Sachverständigen könnte gleichsam als „Land-Wirtschaftsweise“ die Politik beraten.

10. Ganzheitliche Folgenabschätzung

Der erhebliche Verlust an essentiellen Wirkstoffen seit Inkrafttreten der europäischen Zulassungsverordnung 1107/2009 ist auch das Ergebnis einer verengten Sicht allein auf die Eigenschaften einzelner Substanzen, ohne ihre Bedeutung für die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft als Ganzes in Betracht zu ziehen. Neben sogenannten Substitutionskandidaten, also potenziell ersetzbaren Substanzen, wie sie in der Verordnung beschrieben sind, muss es eine Verständigung über (bis auf Weiteres) unersetzbare Substanzen geben – solche nämlich, ohne die der Anbau vieler Kulturen so risikobehaftet wird, dass Landwirte künftig davon absehen würden. Dies betrifft besonders die Insektizide. Gleichzeitig gilt es aber, alle Bereiche des hiesigen Pflanzenbaus so ausreichend mit Wirkstoffen zu versorgen, dass die wirtschaftliche Produktion möglichst vieler landwirtschaftlicher Kulturen mit der gewünschten hohen Qualität erhalten werden kann. Dies ist eine wesentliche Grundlage für breite und abwechslungsreiche Fruchtfolgen.

11. Europäische Harmonisierung

Ein erklärtes Ziel des gemeinschaftlichen Rechtsrahmens für Pflanzenschutzmittelzulassungen in Europa ist die Harmonisierung im Binnenmarkt. So sollen faire Wettbewerbsbedingungen in der Gemeinschaft entstehen. Dieses Ziel aber tritt bei der Umsetzung auf nationaler Ebene zu häufig in den Hintergrund. Wir erleben, dass die deutschen Behörden den europäischen Regulierungsrahmen strengst möglich auslegen und in Einzelfällen um nationale 4 Sonderregelungen ergänzen. Einzelne andere Mitgliedstaaten dagegen nutzen ihren Ermessenspielraum bei regulären Zulassungen oder Ausnahmebestimmungen zum Vorteil ihrer eigenen Landwirtschaft. Dies führt zu der absurden Situation, dass in Nachbarländern (mit ähnlichen landwirtschaftlichen Bedingungen) Produkte zugelassen werden, die deutschen Landwirten verwehrt bleiben.

12. Lehren aus der Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie trifft Deutschland und Europa mit ungeahnter Wucht. Mit einem Schlag hat sie die Bedeutung ausreichender und verlässlicher Nahrungsmittelversorgung in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte gerückt und die Wertschätzung für die heimische Landwirtschaft gestärkt. Auch in Zukunft werden wir in vielen Bereichen von Importen von Agrargütern abhängig sein, so wie die deutsche Landwirtschaft auch ihrerseits als Exporteur dort auftritt, wo im Ausland Nachfrage besteht. Deutschland muss als landwirtschaftlicher Produktionsstandort zukunftsfest gemacht werden: Neben den ackerbaulichen Verfahren leisten effizient eingesetzte Wirtschaftsdünger, moderne Mineraldünger und Pflanzenschutz-mittel sowie neue Züchtungsmethoden einen essentiellen Beitrag zur Absicherung der heimischen Ernteerträge. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen und fördern, die es ermöglichen, den Wert dieser Technologien zu nutzen.

13. Gemeinsame Anstrengung

Die unterzeichnenden Verbände stehen gemeinsam für den Erhalt einer regionalen, vielseitigen, ökonomisch wie ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft und bieten sich gemeinsam zur Entwicklung solcher zukunftsfähigen Lösungen mit allen relevanten Entscheidungsträgern in Politik, Ministerien, Gesellschaft und Behörden an.